Mai 2016 – 1 BvR 1585/13
künstlerischen Entfaltungsfreiheit ein Eingriff in das Tonträgerherstellerrecht
gegenüber, der die Verwertungsmöglichkeiten nur geringfügig beschränkt, können
die Verwertungsinteressen des Tonträgerherstellers zugunsten der Freiheit der
künstlerischen Auseinandersetzung zurückzutreten haben. Dies hat der Erste
Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil entschieden.
Er hat damit einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen die
fachgerichtliche Feststellung wendete, dass die Übernahme einer zweisekündigen
Rhythmussequenz aus der Tonspur des Musikstücks „Metall auf Metall“ der Band
„Kraftwerk“ in den Titel „Nur mir“ im Wege des sogenannten Sampling einen
Eingriff in das Tonträgerherstellerrecht darstelle, der nicht durch das Recht
auf freie Benutzung (§ 24 Abs. 1 UrhG) gerechtfertigt sei. Das vom
Bundesgerichtshof für die Anwendbarkeit des § 24 Abs. 1 UrhG auf Eingriffe in
das Tonträgerherstellerrecht eingeführte zusätzliche Kriterium der fehlenden
gleichwertigen Nachspielbarkeit der übernommenen Sequenz ist nicht geeignet,
einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen dem Interesse an einer ungehinderten
künstlerischen Fortentwicklung und den Eigentumsinteressen der
Tonträgerproduzenten herzustellen.
betrifft die Frage, inwieweit sich Musikschaffende bei der Übernahme von
Ausschnitten aus fremden Tonträgern im Wege des sogenannten Sampling gegenüber
leistungsschutzrechtlichen Ansprüchen der Tonträgerhersteller auf die
Kunstfreiheit berufen können.
Nr. 77/2015 vom 28. Oktober 2015 wird ergänzend verwiesen.
Erwägungen des Senats:
Entscheidungen verletzen drei der insgesamt zwölf Beschwerdeführer in ihrer
Freiheit der künstlerischen Betätigung (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG).
angegriffenen Urteilen zugrunde gelegten gesetzlichen Vorschriften über das
Tonträgerherstellerrecht (§ 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG) und das Recht auf freie
Benutzung (§ 24 Abs. 1 UrhG) sind mit der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz
1 GG und dem Eigentumsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar. Sie geben den mit
ihrer Auslegung und Anwendung betrauten Gerichten hinreichende Spielräume, um
zu einer der Verfassung entsprechenden Zuordnung der künstlerischen Betätigungsfreiheit
einerseits und des eigentumsrechtlichen Schutzes des Tonträgerherstellers
andererseits zu gelangen. Die grundsätzliche Anerkennung eines
Leistungsschutzrechts zugunsten des Tonträgerherstellers, das den Schutz seiner
wirtschaftlichen, organisatorischen und technischen Leistung zum Gegenstand
hat, ist auch mit Blick auf die Beschränkung der künstlerischen
Betätigungsfreiheit verfassungsrechtlich unbedenklich. Umgekehrt führt allein
die Möglichkeit von Künstlerinnen und Künstlern, sich unter näher bestimmten
Umständen auf ein Recht auf freie Benutzung von Tonträgern zu berufen, nicht
schon grundsätzlich zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung des durch Art. 14
Abs. 1 GG geschützten Kerns des Tonträgerherstellerrechts.
Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar ist auch, dass § 24 Abs. 1 UrhG
durch den Verzicht auf eine entsprechende Vergütungsregelung auch das
Verwertungsrecht der Urheber oder Tonträgerhersteller beschränkt. Die
Entscheidung des Gesetzgebers, die enge Ausnahmeregelung nicht durch eine
Vergütungspflicht zu ergänzen, die den Urheber oder Tonträgerhersteller an den
Einnahmen teilhaben ließe, die im Rahmen der freien Benutzung seines Werks oder
Tonträgers erst in Verbindung mit der schöpferischen Leistung eines anderen
entstehen könnten, hält sich in den Grenzen des dem Gesetzgeber zustehenden
Gestaltungsspielraums. Dem Gesetzgeber wäre es allerdings zur Stärkung der
Verwertungsinteressen nicht von vornherein verwehrt, das Recht auf freie
Benutzung mit einer Pflicht zur Zahlung einer angemessenen Vergütung zu
verknüpfen. Hierbei könnte er der Kunstfreiheit beispielsweise durch
nachlaufende, an den kommerziellen Erfolg eines neuen Werks anknüpfende
Vergütungspflichten Rechnung tragen.
verletzen die angegriffenen Entscheidungen die beiden Komponisten und die
Musikproduktionsgesellschaft des Titels „Nur mir“ in ihrer durch Art. 5 Abs. 3
Satz 1 GG garantierten Freiheit der künstlerischen Betätigung.
Zivilgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung des Urheberrechts die im
Gesetz zum Ausdruck kommende Interessenabwägung zwischen dem Eigentumsschutz
der Tonträgerhersteller und den damit konkurrierenden Grundrechtspositionen
nachzuvollziehen und dabei unverhältnismäßige Grundrechtsbeschränkungen zu
vermeiden. Die Schwelle eines Verstoßes gegen Verfassungsrecht, den das
Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist erst dann erreicht, wenn die
Auslegung der Zivilgerichte Fehler erkennen lässt, die auch in ihrer
materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind.
rechtlichen Bewertung der Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken steht
dem Interesse der Urheberrechtsinhaber, die Ausbeutung ihrer Werke zu fremden
kommerziellen Zwecken ohne Genehmigung zu verhindern, das durch die
Kunstfreiheit geschützte Interesse anderer Künstler gegenüber, ohne finanzielle
Risiken oder inhaltliche Beschränkungen in einen Schaffensprozess im
künstlerischen Dialog mit vorhandenen Werken treten zu können. Steht der
künstlerischen Entfaltungsfreiheit ein Eingriff in die Urheberrechte gegenüber,
der die Verwertungsmöglichkeiten nur geringfügig beschränkt, so können die
Verwertungsinteressen der Urheberrechtsinhaber zugunsten der Freiheit der
künstlerischen Auseinandersetzung zurückzutreten haben. Diese Grundsätze
gelten auch für die Nutzung von nach § 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG geschützten
Tonträgern zu künstlerischen Zwecken.
des Bundesgerichtshofs, die Übernahme selbst kleinster Tonsequenzen stelle
einen unzulässigen Eingriff in das Tonträgerherstellerrecht der Kläger dar,
soweit der übernommene Ausschnitt gleichwertig nachspielbar sei, trägt der
Kunstfreiheit nicht hinreichend Rechnung. Wenn der Musikschaffende, der unter
Einsatz von Samples ein neues Werk schaffen will, nicht völlig auf die
Einbeziehung des Sample in das neue Musikstück verzichten will, stellt ihn die
enge Auslegung der freien Benutzung durch den Bundesgerichtshof vor die
Alternative, sich entweder um eine Samplelizenzierung durch den
Tonträgerhersteller zu bemühen oder das Sample selbst nachzuspielen. In beiden
Fällen würden jedoch die künstlerische Betätigungsfreiheit und damit auch die
kulturelle Fortentwicklung eingeschränkt.
die Lizenzierungsmöglichkeit bietet keinen gleichwertigen Schutz der
künstlerischen Betätigungsfreiheit: Auf die Einräumung einer Lizenz zur
Übernahme des Sample besteht kein Anspruch; sie kann von dem
Tonträgerhersteller aufgrund seines Verfügungsrechts ohne Angabe von Gründen
und ungeachtet der Bereitschaft zur Zahlung eines Entgelts für die Lizenzierung
verweigert werden. Für die Übernahme kann der Tonträgerhersteller die Zahlung
einer Lizenzgebühr verlangen, deren Höhe er frei festsetzen kann. Besonders
schwierig gestaltet sich der Prozess der Rechteeinräumung bei Werken, die viele
verschiedene Samples benutzen und diese collagenartig zusammenstellen. Die
Existenz von Sampledatenbanken sowie von Dienstleistern, die Musikschaffende
beim Sampleclearing unterstützen, beseitigen diese Schwierigkeiten nur
teilweise und unzureichend.
Nachspielen von Klängen stellt ebenfalls keinen gleichwertigen Ersatz dar. Der
Einsatz von Samples ist eines der stilprägenden Elemente des Hip-Hop. Die
erforderliche kunstspezifische Betrachtung verlangt, diese genrespezifischen
Aspekte nicht unberücksichtigt zu lassen. Hinzu kommt, dass sich das eigene
Nachspielen eines Sample als sehr aufwendig gestalten kann und die Beurteilung
der gleichwertigen Nachspielbarkeit für die Kunstschaffenden zu erheblicher
Unsicherheit führt.
Beschränkungen der künstlerischen Betätigungsfreiheit steht hier bei einer
erlaubnisfreien Zulässigkeit des Sampling nur ein geringfügiger Eingriff in das
Tonträgerherstellerrecht der Kläger ohne erhebliche wirtschaftliche Nachteile
gegenüber. Eine Gefahr von Absatzrückgängen für die Kläger des
Ausgangsverfahrens durch die Übernahme der Sequenz in die beiden
streitgegenständlichen Versionen des Titels „Nur mir“ ist nicht ersichtlich.
Eine solche Gefahr könnte im Einzelfall allenfalls dann entstehen, wenn das neu
geschaffene Werk eine so große Nähe zu dem Tonträger mit der Originalsequenz
aufwiese, dass realistischerweise davon auszugehen wäre, dass das neue Werk mit
dem ursprünglichen Tonträger in Konkurrenz treten werde. Dabei sind der
künstlerische und zeitliche Abstand zum Ursprungswerk, die Signifikanz der
entlehnten Sequenz, die wirtschaftliche Bedeutung des Schadens für den Urheber
des Ausgangswerks sowie dessen Bekanntheit einzubeziehen. Allein der Umstand,
dass § 24 Abs. 1 UrhG dem Tonträgerhersteller die Möglichkeit einer
Lizenzeinnahme nimmt, bewirkt ebenfalls nicht ohne weiteres – und insbesondere
nicht im vorliegenden Fall – einen erheblichen wirtschaftlichen Nachteil des
Tonträgerherstellers. Der Schutz kleiner und kleinster Teile durch ein
Leistungsschutzrecht, das im Zeitablauf die Nutzung des kulturellen Bestandes
weiter erschweren oder unmöglich machen könnte, ist jedenfalls von Verfassungs
wegen nicht geboten.
die Verwertungsinteressen der Tonträgerhersteller in der Abwägung mit den Nutzungsinteressen
für eine künstlerische Betätigung zurückzutreten. Das vom Bundesgerichtshof für
die Anwendbarkeit des § 24 Abs. 1 UrhG auf Eingriffe in das
Tonträgerherstellerrecht eingeführte zusätzliche Kriterium der fehlenden
gleichwertigen Nachspielbarkeit der übernommenen Sequenz ist nicht geeignet,
einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen dem Interesse an einer ungehinderten
künstlerischen Fortentwicklung und den Eigentumsinteressen der
Tonträgerproduzenten herzustellen.
Bundesgerichtshof kann bei der erneuten Entscheidung die hinreichende
Berücksichtigung der Kunstfreiheit im Rahmen einer entsprechenden Anwendung von
§ 24 Abs. 1 UrhG sicherstellen. Hierauf ist er aber nicht beschränkt. Eine
verfassungskonforme Rechtsanwendung, die hier und in vergleichbaren
Konstellationen eine Nutzung von Tonaufnahmen zu Zwecken des Sampling ohne
vorherige Lizenzierung erlaubt, könnte beispielsweise auch durch eine
einschränkende Auslegung von § 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG erreicht werden. Soweit
Nutzungshandlungen ab dem 22. Dezember 2002, auf welche die
Urheberrechtsrichtlinie der Europäischen Union anwendbar ist, betroffen sind,
hat der Bundesgerichtshof als zuständiges Fachgericht zunächst zu prüfen,
inwieweit durch vorrangiges Unionsrecht noch Spielraum für die Anwendung des
deutschen Rechts bleibt. Erweist sich das europäische Richtlinienrecht als
abschließend, ist der Bundesgerichtshof verpflichtet, effektiven
Grundrechtsschutz zu gewährleisten, indem er die Richtlinienbestimmungen mit
den europäischen Grundrechten konform auslegt und bei Zweifeln über die
Auslegung oder Gültigkeit der Urheberrechtsrichtlinie das Verfahren dem
Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV vorlegt. Das
Bundesverfassungsgericht überprüft, ob das Fachgericht drohende Grundrechtsverletzungen
auf diese Weise abgewehrt hat und ob der unabdingbare grundrechtliche
Mindeststandard des Grundgesetzes gewahrt ist.