Urteil vom 30. April 2020 – I ZR 228/15 – Reformistischer
Aufbruch II
Der unter anderem für das Urheberrecht zuständige I.
Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die Veröffentlichung
von Buchbeiträgen eines Bundestagsabgeordneten auf einem
Internet-Nachrichtenportal zulässig war.
Sachverhalt:
Der Kläger war in den Jahren 1994 bis 2016 Mitglied des
Bundestags. Er ist Verfasser eines Manuskripts, in dem er sich gegen die
radikale Forderung einer vollständigen Abschaffung des Sexualstrafrechts
wandte, aber für eine teilweise Entkriminalisierung gewaltfreier sexueller
Handlungen Erwachsener mit Kindern eintrat. Der Text erschien im Jahr 1988 als
Beitrag in einem Buch. Im Mai 1988 beanstandete der Kläger gegenüber dem
Herausgeber des Buchs, dieser habe ohne seine Zustimmung Änderungen am Text und
an den Überschriften vorgenommen, und forderte ihn auf, dies bei der
Auslieferung des Buchs kenntlich zu machen. In den Folgejahren wurde der Kläger
mehrfach kritisch mit den Aussagen des Buchbeitrags konfrontiert. Er erklärte
daraufhin wiederholt, sein Manuskript sei durch den Herausgeber im Sinn
verfälscht worden, weil dieser die zentrale Aussage – die Abkehr von der
seinerzeit verbreiteten Forderung nach Abschaffung des Sexualstrafrechts –
wegredigiert habe. Spätestens seit dem Jahr 1993 distanzierte sich der Kläger
vollständig vom Inhalt seines Aufsatzes.
Im Jahr 2013 wurde in einem Archiv das Originalmanuskript
des Klägers aufgefunden und ihm wenige Tage vor der Bundestagswahl, für die er
als Abgeordneter kandidierte, zur Verfügung gestellt. Der Kläger übermittelte
das Manuskript an mehrere Zeitungsredaktionen als Beleg dafür, dass es
seinerzeit für den Buchbeitrag verändert worden sei. Einer Veröffentlichung der
Texte durch die Redaktionen stimmte er nicht zu. Stattdessen stellte er das
Manuskript und den Buchbeitrag mit dem Hinweis auf seiner Internetseite ein, er
distanziere sich von dem Beitrag. Mit einer Verlinkung seiner Internetseite
durch die Presse war er einverstanden.
Vor der Bundestagswahl veröffentlichte die Beklagte in
ihrem Internetportal einen Pressebericht, in dem die Autorin die Ansicht
vertrat, der Kläger habe die Öffentlichkeit jahrelang hinters Licht geführt.
Die Originaldokumente belegten, dass das Manuskript nahezu identisch mit dem
Buchbeitrag und die zentrale Aussage des Klägers keineswegs im Sinn verfälscht
worden sei. Die Internetnutzer konnten das Manuskript und den Buchbeitrag über
einen elektronischen Verweis (Link) herunterladen. Die Internetseite des
Klägers war nicht verlinkt.
Der Kläger sieht in der Veröffentlichung der Texte eine
Verletzung seines Urheberrechts. Er hat die Beklagte auf Unterlassung und
Schadensersatz in Anspruch genommen.
Bisheriger Prozessverlauf:
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung
der Beklagten ist erfolglos geblieben. Das Kammergericht hat angenommen, die
Veröffentlichung der urheberrechtlich geschützten Texte des Klägers ohne seine
Zustimmung sei auch unter Berücksichtigung der Meinungs- und Pressefreiheit der
Beklagten weder unter dem Gesichtspunkt der Berichterstattung über
Tagesereignisse (§ 50 UrhG) noch durch das gesetzliche Zitatrecht (§ 51 UrhG)
gerechtfertigt. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren
Klageabweisungsantrag weiter.
Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren mit Beschluss vom
27. Juli 2017 ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur
Auslegung der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des
Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft
vorgelegt (I ZR 228/15, GRUR 2017, 1027 – Reformistischer Aufbruch I; dazu
Pressemitteilung Nr. 124/2017 vom 27. Juli 2017). Diese Fragen hat der
Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 29. Juli 2019 (C-516/17, GRUR
2019, 940 – Spiegel Online) beantwortet. Der Bundesgerichtshof hat daraufhin
das Revisionsverfahren fortgesetzt.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil aufgehoben
und die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat durch die Bereitstellung des
Manuskripts und des Buchbeitrags in ihrem Internetportal das Urheberrecht des
Klägers nicht widerrechtlich verletzt. Zu ihren Gunsten greift vielmehr die
Schutzschranke der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) ein.
Eine Berichterstattung über ein Tagesereignis im Sinne
dieser Bestimmung liegt vor. Das Berufungsgericht hat bei seiner abweichenden
Annahme nicht hinreichend berücksichtigt, dass es in dem in Rede stehenden
Artikel im Schwerpunkt um die aktuelle Konfrontation des Klägers mit seinem bei
Recherchen wiedergefundenen Manuskript und seine Reaktion darauf ging. Dies sind
Ereignisse, die bei der Einstellung des Artikels ins Internetportal der
Beklagten aktuell und im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des erneut als
Bundestagsabgeordneter kandidierenden Klägers von gegenwärtigem öffentlichem
Interesse waren. Dass der Artikel über dieses im Vordergrund stehende Ereignis
hinausgehend die bereits über Jahre andauernde Vorgeschichte und die
Hintergründe zur Position des Klägers mitteilte, steht der Annahme einer
Berichterstattung über Tagesereignisse nicht entgegen.
Die Berichterstattung hat zudem nicht den durch den Zweck
gebotenen Umfang überschritten. Nach der Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 Buchst. c
Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG, deren Umsetzung § 50 UrhG dient und die bei
der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten ist, darf die
fragliche Nutzung des Werks nur erfolgen, wenn die Berichterstattung über
Tagesereignisse verhältnismäßig ist, das heißt mit Blick auf den Zweck der
Schutzschranke, der Achtung der Grundfreiheiten des Rechts auf Meinungsfreiheit
und auf Pressefreiheit, den Anforderungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit
und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) entspricht.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
kommt es für die Frage, ob bei der Auslegung und Anwendung unionsrechtlich
bestimmten innerstaatlichen Rechts die Grundrechte des Grundgesetzes oder die
Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union maßgeblich sind,
grundsätzlich darauf an, ob dieses Recht unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht
ist (dann sind in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern
allein die Unionsgrundrechte maßgeblich) oder ob dieses Recht unionsrechtlich
nicht vollständig determiniert ist (dann gilt primär der Maßstab der
Grundrechte des Grundgesetzes). Im letztgenannten Fall greift die Vermutung,
dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch
die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 – 1 BvR 16/13, GRUR 2020, 74 Rn. 71 –
Recht auf Vergessen I). Da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG
dahin auszulegen ist, dass er keine Maßnahme zur vollständigen Harmonisierung der
Reichweite der in ihm aufgeführten Ausnahmen oder Beschränkungen darstellt, ist
die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anwendung des § 50 UrhG danach anhand
des Maßstabs der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes vorzunehmen.
Im Streitfall sind nach diesen Maßstäben bei der
Auslegung und Anwendung der Verwertungsrechte und der Schrankenregelungen auf
der Seite des Klägers das ihm als Urheber zustehende, durch Art. 14 Abs. 1 GG
geschützte ausschließliche Recht der öffentlichen Zugänglichmachung seiner Werke
zu berücksichtigen. Außerdem ist das von seinem Urheberpersönlichkeitsrecht
geschützte Interesse betroffen, eine öffentliche Zugänglichmachung seines Werks
nur mit dem gleichzeitigen Hinweis auf seine gewandelte politische Überzeugung
zu gestatten. Für die Beklagte streiten dagegen die Grundrechte der Meinungs-
und Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG. Die Abwägung dieser im
Streitfall betroffenen Grundrechte führt zu einem Vorrang der Meinungs- und
Pressefreiheit. Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, dass der
Beklagten im Rahmen ihrer grundrechtlich gewährleisteten Meinungs- und
Pressefreiheit die Aufgabe zukam, sich mit den öffentlichen Behauptungen des
Klägers kritisch auseinanderzusetzen und es der Öffentlichkeit durch die Bereitstellung
des Manuskripts und des Buchbeitrags zu ermöglichen, sich ein eigenes Bild von
der angeblichen inhaltlichen Verfälschung des Aufsatzes und damit von der
vermeintlichen Unaufrichtigkeit des Klägers zu machen. Dabei ist das
Berufungsgericht zutreffend von einem hohen Stellenwert des von der Beklagten
wahrgenommenen Informationsinteresses der Öffentlichkeit ausgegangen. Im
Hinblick auf die Interessen des Klägers ist zu berücksichtigen, dass sein durch
Art. 14 Abs. 1 GG geschütztes ausschließliche Recht zur öffentlichen
Zugänglichmachung des Manuskripts sowie des Buchbeitrags nur unwesentlich
betroffen ist, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mit einer
weiteren wirtschaftlichen Verwertung des Aufsatzes nicht zu rechnen ist. Sein
dem Urheberpersönlichkeitsrecht unterfallendes Interesse, zu bestimmen, ob und
wie sein Werk veröffentlicht wird, erlangt im Rahmen der Grundrechtsabwägung
kein entscheidendes Gewicht. Die Beklagte hat ihren Lesern in dem mit der Klage
angegriffenen Bericht die im Lauf der Jahre gewandelte Meinung des Klägers zur
Strafwürdigkeit des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger nicht verschwiegen,
sondern ebenfalls zum Gegenstand der Berichterstattung gemacht. Sie hat der
Öffentlichkeit damit den in Rede stehende Text nicht ohne einen
distanzierenden, die geänderte geistig-persönliche Beziehung des Klägers zu
seinem Werk verdeutlichenden Hinweis zur Verfügung gestellt und seinem
urheberpersönlichkeitsrechtlichen Interesse hinreichend Rechnung getragen.
Vorinstanzen:
LG Berlin – Urteil vom 17. Juni 2014 – 15 O 546/13
Kammergericht – Urteil vom 7. Oktober 2015 – 24 U 124/14
Die maßgebliche Vorschrift lautet:
§ 50 UrhG
Zur Berichterstattung über Tagesereignisse durch Funk
oder durch ähnliche technische Mittel, in Zeitungen, Zeitschriften und in
anderen Druckschriften oder sonstigen Datenträgern, die im Wesentlichen
Tagesinteressen Rechnung tragen, sowie im Film, ist die Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentliche Wiedergabe von Werken, die im Verlauf dieser Ereignisse
wahrnehmbar werden, in einem durch den Zweck gebotenen Umfang zulässig.
Karlsruhe, den 30. April 2020
Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501