Kategorien
Uncategorized

KG Berlin: Einsicht in die Rohmessdaten bei standardisiertem Messverfahren (Beschluss vom 06.08.2018, 3 Ws (B) 168/18 – 162 Ss 48/18)

Das Kammergericht hatte sich in dem  Beschl. v. 06.08.2018 – 3 Ws
(B) 168/18
mit der Rechtsbeschwerde eie´nes Verteidigers nach des Antrag
auf Akteneinsicht zu beschäftigen.  Beantragt war im Bußgeldverfahren die Einsicht
in die Rohmessdaten nach einer Messung mit einem standardisierten
Messverfahren. Die wird nicht gewährt.
Das KG sieht die (Verfahrens)Rüge des Verteidigers als
unzulässig an:
               
Leitsätze:
1. Rügt die Rechtsbeschwerde, keinen Zugang zur sog.
Lebensakte und den Rohmessdaten erhalten zu haben, so hat sie substantiiert
vorzutragen, was sich aus diesen Unterlagen ergeben hätte. Sollte ihr dies
nicht möglich sein, weil ihr die Unterlagen noch immer nicht vorliegen, so muss
sich der Rechtsbeschwerdeführer bis zum Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist
weiter um die Einsicht bemüht haben und die entsprechenden Anstrengungen
substantiiert dartun.
2. Das Urteil kann nur dann auf einem Mangel des § 267 Abs.
3 StPO beruhen, wenn auch nach Heranziehung der Urteilsformel und unter
Berücksichtigung des Zusammenhangs der Urteilsgründe zweifelhaft bleibt,
welcher Ordnungswidrigkeitentatbestand erfüllt ist.
3. Dass auf dem Messfoto einzelne Teile des Gesichts
verdeckt sind, steht der Bewertung, es sei zur Identifikation des Fahrers
grundsätzlich geeignet, nicht per se entgegen.

Gründe:
Der Schriftsatz des Verteidigers vom 10. Juli 2018 lag vor,
gab zu einer anderen Entscheidung jedoch keinen Anlass. Ergänzend führt der
Senat Folgendes aus:        
1. Die Ausführungen des Rechtsbeschwerdeführers zur
Nichtigkeit des Urteils gehen fehl. Die Urteilsgründe müssen in einer jeden
Zweifel ausschließenden Weise zum Ausdruck bringen, welchen gesetzlichen
Tatbestand das Gericht als erfüllt ansieht und welche Vorschriften für die
Bemessung von Rechtsfolgen maßgeblich waren. Urteilstenor (§ 260 Abs. 4 StPO)
und Urteilsgründe (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) müssen erkennen lassen, gegen
welche Tatbestände ein Betroffener verstoßen hat. Genügt das Urteil diesen
Anforderungen, leidet es, wenn die Tat in der Urteilsformel nicht näher
bezeichnet ist, aufgrund dessen nicht an einem durchgreifenden Rechtsfehler.
Das Urteil kann nur dann auf einem Mangel des § 267 Abs. 3 StPO beruhen, wenn
auch nach Heranziehung der Urteilsformel und unter Berücksichtigung des
Zusammenhangs der Urteilsgründe zweifelhaft bleibt, welchen
Ordnungswidrigkeitentatbestand das Gericht als erfüllt ansieht (vgl. Senat,
Beschluss vom 10. Januar 2018 – 3 Ws (B) 10/18 –; OLG Düsseldorf NZV 2000, 382;
OLG Hamm NZV 2000, 95).       
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil gerecht.
Zwar enthält die Urteilsformel entgegen § 71 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit §
260 Abs. 4 Satz 1 StPO keine Bezeichnung des vom Amtsgericht als verwirklicht
angesehenen Ordnungswidrigkeitentatbestandes, jedoch wird dieser aus den
Urteilsgründen, dort unter IV. (UA S. 6), eindeutig ersichtlich.         
2. Soweit der Rechtsbeschwerdebegründung die Rüge der
Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt (§ 79 Abs. 3 Satz 1
OWiG, § 338 Nr. 8 StPO) zu entnehmen ist, versäumt sie es, substantiiert
vorzutragen, welche Tatsachen sich aus welchen (genau zu bezeichnenden Stellen
der beizuziehenden bzw. anzufordernden) Unterlagen ergeben hätten und welche
Konsequenzen für die Verteidigung daraus folgten. Sollte dem Verteidiger, was
hier nicht nur naheliegt, sondern auch vorgetragen wird, eine solche konkrete
Bezeichnung vorenthaltenen Materials (hier: die sog. Lebensakte und die – über
die aktenkundigen Rohmessdaten zur in Rede stehenden Messung hinausgehenden –
digitalen Falldaten der gesamten Messserie) nicht möglich sein, weil ihm dieses
noch immer nicht vorliegt, so muss er sich bis zum Ablauf der Frist zur
Erhebung der Verfahrensrüge weiter um die Einsicht bemüht haben und die
entsprechenden Anstrengungen gegenüber dem Rechtsbeschwerdegericht auch dartun
(vgl. BGH NStZ 2010, 530; Senat DAR 2017, 593 und 2013, 211; OLG Bamberg DAR
2016, 337; OLG Celle NZV 2013, 307; OLG Hamm NStZ-RR 2013, 53).         
An entsprechendem Vortrag fehlt es hier. Die Verfahrensrüge
ist daher bereits unzulässig.     Zwar
trägt der Verteidiger vor, telefonisch bei der Bußgeldstelle angefragt zu
haben, ob sie ihm die Lebensakte zum Zwecke der Rechtsbeschwerdebegründung
übersenden würde, was die Behörde abgelehnt habe. Jedoch genügt dieser Vortrag
nicht den Erfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1
OWiG. Darzulegen wäre gewesen, wann diese Anfrage erfolgt war und insbesondere,
welcher Mitarbeiter der Bußgeldstelle sie abschlägig beschied. Dieses
Darlegungserfordernis stellt – anders als der Verteidiger meint – keine
Überspannung der Anforderungen an das notwenige Vorbringen dar. Abgesehen
davon, dass sich bereits aus den genannten Vorschriften ergibt, dass die den
gerügten Mangel begründenden Tatsachen vollständig, klar und umfassend
vorzutragen sind, ist es dem Senat hier in Ermangelung entsprechenden Vortrags
nicht möglich, eine dienstliche Stellungnahme des betreffenden Mitarbeiters der
Bußgeldstelle einzuholen.         
3. Ob dem Betroffenen Einsicht in „die digitalen Falldaten
der gesamten Messserie“ zu gewähren gewesen wäre oder ob diesem Begehren
datenschutzrechtliche oder andere Umstände entgegengestanden hätten, kann der
Senat auch hier dahingestellt lassen (vgl. ebenso Senat, Beschluss vom 27.
April 2018 – 3 Ws (B) 133/18 – (juris)).         
Der Senat erkennt allerdings an, dass der Verteidiger,
soweit dies zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich
ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen kann, die sich
nicht bei den Akten befinden (vgl. BGHSt 39, 291; 28, 239; Cierniak/Niehaus,
DAR 2014, 2). Denn die Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die
den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob
Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen (vgl.
Cierniak/Niehaus, a.a.O.). Das Informations- und Einsichtsrecht des
Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des
Gerichts (vgl. Senat DAR 2013, 211 (Bedienungsanleitung)). Solch weitreichende
Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und
gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Denn zum einen gibt es keinen
Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige
Ergebnisse liefert, und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf,
nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden (vgl.
BGHSt 39, 291; Cierniak, zfs 2012, 664).      
Das daraus folgende Recht auf einen „Gleichstand des
Wissens“ und auf Zugang zu den jedenfalls den Betroffenen betreffenden
Messdaten ist jedoch nicht Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art.
103 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG). Dieses Verfahrensgrundrecht verlangt,
dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen zugrunde gelegt
werden, zu denen der Betroffene Stellung nehmen konnte (vgl. BVerfG 6, 12).
Zwar umfasst das Recht auf effektive Stellungnahme auch das Recht auf
Informationen über den Inhalt und den Stand des gerichtlichen Verfahrens und
damit auf Akteneinsicht (vgl. Senat DAR 2013, 211). Einen Anspruch auf
Erweiterung der Gerichtsakten vermittelt Art. 103 GG jedoch nicht (vgl. Senat
DAR 2017, 593; Cierniak, zfs 2012, 664 und ausführlich Cierniak/Niehaus, DAR
2014, 2).              
Die erhobene Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs kann
hier schon deshalb keinen Erfolg haben; die Rechtsbeschwerde beanstandet die
unterbliebene Einsicht in nicht bei der Akte befindliche Unterlagen. Der hier
einschlägige Grundsatz der „Waffengleichheit“, der dem Betroffenen die
Möglichkeit verschafft, sich kritisch mit den durch die Verfolgungsbehörden
zusammengetragenen Informationen auseinanderzusetzen, ist vielmehr Ausfluss der
Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK (vgl. Cierniak/Niehaus,
a.a.O.).       
4. Soweit mit der Rechtsbeschwerde im Zuge der Sachrüge
beanstandet wird, der in der Hauptverhandlung vernommene Sachverstände
Steinbart habe bekundet, das Messgerät sei nicht seiner Gebrauchsanweisung
entsprechend aufgestellt bzw. verwendet worden, kann der Betroffene damit nicht
durchdringen.        
Der Senat hat erwogen, die erhobene Sachrüge insofern in
eine ausgeführte Verfahrensrüge umzudeuten. Einen Erörterungsmangel und damit
die Verletzung des § 261 StPO hat der Betroffene nicht gerügt. Es ist aber
anerkannt, dass ein Irrtum des Beschwerdeführers in der Bezeichnung der Rüge
unbeachtlich ist (vgl. BGHSt 19, 273 DAR 1977, 179; Senat, Beschlüsse vom 6.
November 2014 – 3 Ws (B) 558/14 – und 13. Oktober 2014 – 3 Ss 119/14 –; OLG
Bamberg NZV 2011, 44; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 61. Aufl., § 344 Rn. 10
m.w.N.). Maßgeblich ist die wirkliche rechtliche Bedeutung des
Rechtsmittelangriffs, wie er Sinn und Zweck des Vorbringens entnommen werden
kann (vgl. BGH NJW 2007, 02; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. m.w.N.).            
Der von der Rechtsbeschwerdeschrift geführte urteilsfremde
Angriff gegen die Beweiswürdigung des Urteils könnte allenfalls mit der
Verfahrensrüge Erfolg haben. Denn der Betroffene macht geltend, dass sich das
Amtsgericht nicht mit den Ausführungen des in der Hauptverhandlung gehörten
Sachverständigen zur Aufstellung des Messgeräts befasst hat. Ergibt sich die
Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung aber – wie hier – nicht aus den
Urteilsgründen selbst, sondern erst aus der weiteren in der
Sitzungsniederschrift beschriebenen Beweisaufnahme, die aber in der
Beweiswürdigung keinen Niederschlag gefunden hat, ist der Erörterungsmangel
nicht mit der Sachrüge, sondern mit einer ausgeführten Verfahrensrüge geltend
zu machen. Nur so kann beanstandet werden, dass der Tatrichter das in der
Hauptverhandlung eingeführte Beweismaterial nicht erschöpfend gewürdigt hat
(vgl. Ott in Karlsruher Kommentar, StPO 7. Aufl., § 261 Rn. 82 unter Hinweis
auf BGH NStZ 2001, 440 und StV 2002, 546). Es ist anerkannt, dass mit der
ausgeführten Verfahrensrüge Erörterungsmängel beanstandet werden können, deren
fehlerhafte Würdigung sich aus dem Sitzungsprotokoll ergibt. Dazu gehören die
Fälle, bei denen eine nach § 251 StPO verlesene Zeugenaussage (vgl. BGH StV
1990, 485) oder ein wesentliches Detail einer verlesenen Urkunde (vgl. BGH StV
2003, 319; NStZ 2007, 115) mit tragenden Urteilfeststellungen unvereinbar sind
oder sich deren Erörterung zumindest aufdrängen musste (vgl. BGH NStZ-RR 2011,
214; Ott in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 261 Rn. 82).         
Indem die Rechtsbeschwerde die Nichterörterung der durch den
Sachverständigen unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen die
Gebrauchsanweisung zur Aufstellung des Messgeräts bekundeten Äußerungen
beanstandet, rügt sie einen Erörterungsmangel. Die in den Blick genommene
Umdeutung der erhobenen Sachrüge kann der Verfahrensrüge gleichwohl nicht zur
Zulässigkeit verhelfen. Denn ein urteilsfremder Erörterungsmangel kann nur dann
zur Grundlage einer Verfahrensrüge gemacht werden, wenn die unterbliebene
Auseinandersetzung verfahrensrechtlich beweisbar ist (vgl. BGH NStZ-RR 2009,
180). Das ist nur der Fall, wenn das Beweismittel prozessual eine objektive
Grundlage hat, z.B. in einer verlesenen Urkunde oder in einer wörtlichen
Protokollierung nach § 273 Abs. 3 StPO (Ott in Karlsruher Kommentar, a.a.O., §
261 Rn. 82 a.E.). Dies ist hier nicht der Fall. Die Bekundungen des
Sachverständigen wurden lediglich inhaltlich, nicht jedoch wörtlich
protokolliert. Ihre Berücksichtigung liefe mithin auf eine Rekonstruktion der
Hauptverhandlung hinaus, die dem Senat verwehrt ist (vgl. BGH NStZ-RR 2009,
180).
5. Der in den Urteilsgründen nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO
i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG in Bezug genommene Hochglanzausschnitt aus dem Messfoto
(Bl. 56 d.A.), der aufgrund der Verweisung Urteilsbestandteil geworden ist,
erweist sich nach Inaugenscheinnahme durch den Senat als zur Identifikation des
darauf abgebildeten Fahrzeugführers grundsätzlich geeignet. Er ist hinreichend
kontrastreich und scharf. Insbesondere sind die in den Urteilsgründen
bezeichneten Merkmale der abgebildeten Person, nämlich die Gesichtsform, die
Form der Nase, die engstehenden Augen, die leicht abstehenden Ohren und die
Form des Mundes darauf deutlich zu erkennen. Daran, dass die Tatrichterin – wie
in den Urteilsgründen dargestellt (UA S. 3) – anhand dieses Fotos einen
Vergleich auf Übereinstimmung der darauf abgebildeten Person mit dem äußeren
Erscheinungsbild des in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen vorzunehmen
vermochte, hat der Senat keinen Zweifel. Der Umstand, dass – wie hier die Stirn
durch den Innenrückspiegel und die anatomisch rechte Hälfte der Kinnpartie
durch eine Hand – einzelne Teile des Gesichts auf dem Messfoto verdeckt bzw.
nicht erkennbar sind, führt nicht zu dessen genereller Ungeeignetheit zur
Fahreridentifizierung (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Januar 2018 – 3 Ws (B)
11/18 –; OLG Hamm DAR 2016, 366 zu einem vergleichbar gelagerten Sachverhalt,
in dem die Stirn durch den Rückspiegel sowie die Augenpartie durch eine
Sonnenbrille verdeckt waren).